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Wie verloren, wie ausgeliefert und hilflos kann man sein?


Liebe Julia, im Mai dieses Jahres jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal. Der „Größte Unglückstag“ aus Deiner Veröffentlichung in unserer Reihe Zeitzeugen ist mit dem 23. April 1945 datiert, also kurz davor. Wessen Zeitzeugnis lesen wir?


Meine Patentante, die Schwester meines Vaters, hat mir zu ihrem Tod ihr Tagebuch vermacht. Der Großteil der Aufzeichnungen bezieht sich auf die letzten Kriegstage. Meine Tante war zwar in Essen geboren und blieb dort ihr Leben lang, aber in den letzten Kriegsmonaten arbeitete sie als Rotkreuz-Schwester mitten in Berlin. Sie war also in der bis zuletzt hart umkämpften Hauptstadt direkt am Puls dieser Zeit. Die Tagebuchaufzeichnungen sind ein sehr persönliches, aber auch für viele Menschen in dieser Zeit und zu dieser Situation ein sicherlich übertragbares Zeitzeugnis. 

 

Ein Tagebuch ist ja ein sehr persönliches Dokument. Wieso hast Du dich entschlossen, diese Aufzeichnungen Deiner Tante öffentlich zu machen?


Im Zusammenhang mit der Gestaltung des Buches habe ich viel Sekundärliteratur gelesen und mir Filme dieser Thematik angesehen. Und gerade jetzt, wo eine Kriegssituation in Europa so beängstigend real und es auch für uns in Deutschland weit bedrohlicher ist als noch vor 20 Jahren, kommen sicher einigen Angehörigen der Generation meiner Tante, soweit sie noch lebendige Zeitzeugen hat, ganz ähnliche Erlebnisse, Erinnerungen und Bilder in den Sinn, wie sie meine Tante erfahren musste. Leider sieht Krieg immer genau so aus - das ist nach 80 Jahren nicht anders und sollte jeder wissen. Natürlich habe ich mit mir gerungen, weil ein Tagebuch eben ein persönliches Tagebuch ist, die Erlebnisse darin auch sehr intimer Natur sind, andererseits dient ein Tagebuch aber auch dem bewussten Festhalten und Weitergeben von Erinnerungen. Darüber hinaus schreibt meine Tante relativ nüchtern, reflektiert und sachlich, so dass ich nicht das Gefühl habe, ein eigentlich zu schützendes, verletzliches Innenleben auf dem Tablett darzureichen. Die persönlichen Einblicke in diese Zeit, die durch die 80-Jahrfeier des Weltkrieg-Endes und der aktuellen Weltenbrand-Angst wieder als warnendes Beispiel in den Blickpunkt geraten ist, sind berührend und gerade dadurch so wichtig, um vor dem zu warnen, was manchen in seiner Tragweite nicht präsent genug zu sein scheint: Wie verloren, wie ausgeliefert und hilflos kann man sein? Was passiert, wenn die Welt um einen zusammenbricht und wenn die Angst vor der Zerstörung der persönlichen Integrität eine tägliche Begleiterin wird? Auch meine Tante war anfangs begeistert von der neuen Zeit und den einfachen Antworten, die das Gefühl befriedigen und Sicherheit versprechen. Noch lange geprägt von Propaganda und dadurch verinnerlichten Vorurteilen muss eine junge Frau aus behütetem Haus in den unterschiedlichsten Begegnungen ihre eigene Meinung bilden. Ob mit oder ohne soziale Medien, sicherlich zu allen Zeiten eine der menschlichen Herausforderungen überhaupt. Insofern ist das Dokument meiner Tante auch zeitlos und über die Kriegssituation hinaus interessant. 

 

Inwiefern hat die Lektüre nachträglich Deinen Blick auf Deine Tante verändert?

Wie ich es in der Einleitung zu dem Buch auch schreibe, war ich als Kind und Jugendliche zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um aus heutiger Sicht sagen zu können, ich kannte meine Tante so gut, dass die Worte des Tagebuchs ihr von mir so wahrgenommenes Wesen bestätigen oder ihm widersprechen. Sie war zeitlebens sehr zurückhaltend und erzählte wenig von sich. Insofern sind die persönlichen Aufzeichnungen natürlich bereichernd. Meine ganze Familie, die das Buch gelesen und der Veröffentlichung ihr OK gegeben hat, meint einhellig, überrascht zu sein und von meiner Tante ein neues Bild gewonnen zu haben. Das ein oder andere gäbe eventuell eine Antwort auf so manchen Aspekt ihres Lebens. Mit der Erfahrung eines zeitlebens gehüteten Geheimnisses geht oft bei den Angehörigen ein leiser Schreck und auch so etwas wie ein Schuldgefühl einher, Bestimmtes nicht mit noch mehr Aufmerksamkeit und sogar Nachsicht betrachtet zu haben. 


Du hast das Tagebuch um einen Beitrag über die Vergewaltigungen deutscher Frauen im Zweiten Weltkrieg ergänzt, die ja lange tabuisiert und verdrängt wurden. Was macht das Thema für dich heute aktuell?

Auf diese Frage kann ich nur betroffen antworten, dass Vergewaltigung, diese vollkommen respektlose Unterwerfung und gewaltsame Übertretung persönlicher Integrität leider im selben Maße Teil des menschlichen Miteinanders ist, wie es auch die der beiderseits innig gewünschten intimen Art der gegenseitigen Zuneigung ist. In Zeiten des Krieges ist Vergewaltigung aber auch nicht nur das Ergebnis ungehemmter Lustausübung, sondern auch ein bewusst gewähltes Instrument der Unterwerfung des Feindes. Die Zeitzeuginnen in der Ukraine haben dazu erst wenig Berichte in die Welt geschickt. Die Zahl der Betroffenen wird aber mit Sicherheit nicht gering sein. 



 
 
 

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