Frisch ausgepackt: Der zweite Doppelband der 60er-Jahre-Saga "Essen, Sessenbergstraße". Zeit für drei Fragen an den Autor.
Rainer, Deine 60er-Jahre-Saga "Essen.Sessenbergstraße" hat sich mit dem ersten Doppelband ja schon einen richtigen Fankreis aufgebaut. Was meinst du, was mögen die Leute an Deinem Konzept?
Die älteren Leser mögen es, an eine aus ihrer jetzigen Sicht schöne Zeit erinnert zu werden und die jüngeren Leser, etwas über die 60er Jahre im Ruhrgebiet zu erfahren. Diese Dekade betrachten viele, ähnlich wie die Romantiker das Mittelalter, als ein goldenes Zeitalter.
In authentischer Manier werde in den Romanen „die Volksseele auf humorvolle und anschauliche Weise gestreichelt. Es sei gelungen, das Typische des Ruhrgebiets der 60er mit dem Menschlichen seiner Bewohner zu verbinden.“ So formuliert es ein Leser. Die Protagonisten und ihre Lebensart bilden den unverrückbaren Nucleus, den Mittelpunkt der Krimis, denn sie verkörpern das Volkstümliche.
Die in den Romanen vermittelte Idylle wird verstärkt und hervorgehoben durch den starken Kontrast zur Kriminalität. Aber egal, was an kriminellen Grausamkeiten den Leserinnen und Lesern begegnet, sie finden immer wieder mit den Protagonisten Zuflucht in dem kleinen Häuschen in der Gartenanlage in der Sessenbergstraße.
Was denkst du, hat die 60er Jahre im Essener Osten besonders charakterisiert?
Die 60er Jahre können auch in Essen als eine Dekade der Gegensätze bezeichnet werden. Während vor allem im Süden der Stadt für die Menschen Wohlstand kein Fremdwort mehr war und man sich Luxusartikel wie Schuhe, Taschen, Pelzmäntel, Autos oder Italienurlaub leisten konnte, findet man im Essener Osten Kinder, die auf Industriegeländen vor rauchen- den Schloten spielen, ältere Männer, die ihre Taubenschläge pflegen oder in Schrebergärten Pilsken trinken und Frauen, die an Gartenzäunen tratschen oder gemütlich an langen Tafeln in Gärten Kaffeklatsch halten. Kumpel gingen gemeinsam zur Schicht und trafen sich häufig nachher in der geliebten kleinen Stammkneipe. Man veranstaltete regelmäßig Straßenfeste, die auch zeigten, dass man eine Gemeinschaft war. Man hielt zusammen. Man freute sich gemeinsam und trauerte gemeinsam. Man half einander, traf sich auch regelmäßig sonntags in der Kirche, um nach dem Gottesdienst auf dem Kirchplatz zu plaudern.
Deine Protagonisten sprechen authentisches Ruhrdeutsch. Was macht diese Sprache, die im Grunde ja heute niemand mehr so spricht, für dich so besonders, was war ihre Magie?
„Sehnse getz, liebes Pupplikum, Frau Meier ihre Kinder!“ Diese Ankündigung der Jonglage - Nummer einer Schulklasse eines münsterländischen Gymnasiums in einem Mitmachzirkus durch den aus dem Ruhrgebiet stammenden Zirkusdirektor und andere sprachliche Abweichungen von der schriftsprachlichen Norm veranlasste Eltern, sich bei der Schulleitung über die fehlerhafte Sprache der Zirkusleute massiv zu beschweren. Diese Sprache sei eines Gymnasiums nicht würdig. Im Ruhrgebiet hätte man diese Fehler entweder gar nicht bemerkt oder belächelt oder einfach ignoriert. Jeder hat doch die inhaltlichen Aussagen der gesprochenen Worte verstanden.
„Hasse ma gemeakt, wie etepetete dea neue Nachbaa spricht? Der is nich von hiea, kommt bestimmt aus ne andre Ecke. Ne, ich sach dich, dea passt nich hiea inne Lantschaft.“ So könnte ein Ruhri auf die korrekte, aber steife Sprechweise eines Menschen in seiner Nachbarschaft reagieren. Die „Kumpelsprache“oder das Ruhrpottdeutsch, also eine gemeinsame Ausdrucksweise, stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Die Ruhrpottsprache ist nicht „etepetete und steif“, sondern lebendig, locker, unkompliziert. Mit dem Rückgang des Bergbaus und durch einen Strukturwandel im Ruhrgebiet verschwin- det sie nach und nach. Außerdem zeigen uns die modernen Medien Tag für Tag, Nacht für Nacht, wie man grammatikalisch richtig spricht, und niemand möchte davon abweichen. Wie schade.
Die Frage der „Magie“ dieser Sprache kann man vielleicht selbst beantworten, wenn man versucht, sie zu sprechen oder die Dialoge in den Romanen laut liest.
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