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Peter Marx

"Gute, unterhaltsame, zuweilen surreal anmutende Geschichten für Menschen, die Literatur lieben"

Karl-Heinz, herzlich willkommen im Hummelshain! Du bist ja ein sehr vielseitiger Mensch, wie würdest du Dich unseren Lesern in aller Kürze vorstellen?


Vielseitig? Ja, das kann man sagen. Ich bin Bildender Künstler, zeichne, drehe experimentelle Videos, zeige zusammen mit Musikern Performances auf der Bühne und habe jetzt einen Roman geschrieben. Aber eigentlich geht es immer nur um eins. Ich erzähle gerne Geschichten. Auch in den Videos, in den Bühnenprogrammen werden Geschichten erzählt. Diese sind, so schrieben Kritiker, unterhaltsam, manchmal verstörend, von überbordender Fantasie, gleichzeitig oft böse – eben mit schwarzem Humor erzählt, mit rabenschwarzem Humor. Oliver Sacks sagte einmal: »Ich erzähle keine Lügen, sondern erfinde möglicherweise die Wahrheit.« Darin finde ich mich wieder.

 

›Der Nachtrabe‹ beschäftigt sich mit einer Erfahrung, die sehr viele Menschen machen: Wenn ein naher Angehöriger dement wird, verschwindet nach und nach eine ganze Biographie. Wie bist du dieses Thema erzählerisch angegangen?


Das Buch hat verschiedene Ebenen, die miteinander verquickt sind. Die Hauptperson ist eine alte Frau, die langsam in die Demenz abgleitet. Der Ich-Erzähler beschließt »Ich werde dir helfen. Ich werde dir eine Erinnerung schreiben. Ich werde dir deine Erinnerung machen.« Menschen, die mitbekommen haben, das ich über dieses Thema schrieb, haben mir die Frage gestellt, ob man sich anmaßen kann, für andere Erinnerungen zu machen. Eine Frage der Moral. Ich habe mich dann sehr gefreut, als ein Freund, nachdem er erste Kapitel gelesen hatte, schrieb: »Ich war beim Lesen fasziniert vom Detailreichtum deiner Beschreibungen. In allem eine große Fürsorge/Liebe der alten Dame gegenüber.« Wie gesagt, es werden teilweise sehr skurrile, auch böse Geschichten erzählt. Aber mich freut, daß meine Zuneigung zu dieser alten Frau im gesamten Buch durchschimmert. 

Der Text ist autobiographisch gefärbt, meine Kindheit und Jugend war ungewöhnlich, daher bleibt das Verhältnis des Ich-Erzählers und der Frau geheimnisvoll. Die Frau verfügt über einen exzentrischen Charakter und entwickelt mit ihrer Krankheit eine anwachsende Aggressivität. Das macht den Umgang mit ihr zunehmend schwierig. Solch eine Erfahrung werden viele machen, die mit dementen Menschen umgehen. Und auch das ist eine Themenebene in dem Text.

 

„Meine Hilfe ist keine Nächstenliebe“, analysiert Dein Erzähler-Ich. „Es ist eine Mischung aus Pflicht und Eigennutz.“ Du beschreibst die harte Realität der Erkrankung und schaffst dagegen diesen Kosmos der Erinnerung für sie, die sie nicht mehr hat. Eine tolle Idee. Könntest Du Dir vorstellen, mit dem Buch Lesungen für Angehörige von Demenzkranken zu machen und so ins Gespräch zu kommen?


Es gibt so viele verschiedene Menschen, so viele verschiedene Charaktere. Und das ist gut so. Vielfalt und gegenseitige Toleranz erhöht die Lebensqualität. Aber es gibt natürlich gemeinsame Bezugspunkte, das macht Gemeinschaft aus. 

Ich habe die Erfahrung machen müssen, wie es ist, mit einem Demenzkranken in unmittelbarer Nähe zu leben. In der Pflicht zu stehen, diesem Menschen, der nicht mehr für sich selbst sorgen kann, zu helfen. Gleichzeitig muß man sich selber schützen, darf in solch einer Situation nicht kaputt gehen. Mir hat es geholfen zu schreiben. In unserer Gesellschaft müssen viele ähnliche Erfahrungen machen. Einen Austausch, zum Beispiel in Lesungen, stelle ich mir sehr interessant und im Idealfall auch hilfreich vor – für Leser und Autor.

 

Du sprichst davon, daß ›Der Nachtrabe‹ verschiedene Ebenen hat. Was meinst du damit?


Ich selbst mag Bücher, die vielschichtig daherkommen. Ein gutes Beispiel ist Umberto Ecos ›Der Name der Rose’. Dies ist ein Kriminalroman, in dem eine Reihe von Morden aufgeklärt wird. Man kann das Buch aber auch als Kirchengeschichte des Mittelalters lesen oder als Lehrbuch der Semiotik. Eco war Professor für Semiotik. Bei aller Gelehrsamkeit kann man es aber auch nur als guten, spannenden, unterhaltsamen Krimi lesen. ›Der Nachtrabe‹ erzählt die Lebensgeschichte einer Frau, die in der Weimarer Republik geboren wurde, bis nach der Jahrtausendwende. Ihre Biographie ist typisch für ihre Generation. Ihre Geschichte ist in dem Buch in die Zeitläufte eingebettet. Es wird ein egozentrischer Charakter vorgestellt. Der Verlauf einer Demenzerkrankung und die Probleme, die dadurch für die Mitmenschen entstehen. Der Text geht ebenfalls der Frage nach, was Erinnerungen sind. Wie Denken und Erinnern funktioniert, bis hin zur Verhaltensforschung bei Rabenvögeln, die zu den Tieren mit den besten Gedächtnisleistungen gehören. ›Der Nachtrabe‹ erzählt aber auch gute, unterhaltsame, zuweilen surreal anmutende Geschichten für Menschen, die Literatur lieben.



 

 

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