Lieber Jörg, nach vier Roman überrascht Du uns nun mit sieben Erzählungen über die Liebe in verschiedenen Lebensetappen. Lässt es sich mit Georg Brassens berühmten Chansontitel „Il n'y a pas d'amour heureux" zusammenfassen ?
„Glückliche Liebe, die gibt´s nie“? Vielleicht ist es wirklich so, dass der Refrain aus dem bekannten, von Brassens vertonten Aragon-Gedicht ein Stück weit meinen persönlichen Liebes-Erfahrungen aus fünfeinhalb von nunmehr sieben Jahrzehnten entspricht. Oder sagen wir es, die Rigidität der Aussage abmildernd, so: Der Vers rührt an die früh entstandene Ahnung, dass es zumindest kein Liebesglück auf Dauer geben kann, das Glück immer nur der Flüchtigkeit des erfüllten Moments verhaftet ist und der Absturz in Trennung und Verlust mit den Jahren immer härter wird und in äußerst schmerzhafter Münze zu begleichen ist. Deshalb glaube ich auch, dass besonders Erwachsene der Liebe wegen der ihr latent innewohnenden Möglichkeit des Scheiterns und Vergehens grundsätzlich misstrauen. Wolf Biermann hat das in der deutschen Nachdichtung des erwähnten Chansons so formuliert: „Und kaum hab´ ich das Leben gelernt / Schon ist´s vorüber / Ein Weinen hat für eine Nacht / Die Seelen uns vereint / Schwer wird Dein süßes Beben / mit Herzeleid bezahlt...“
Was ist am Augenblick vor dem Kuss unter Umständen schöner (oder erzählenswerter) als am Kuss selbst?
Der Augenblick vor dem Kuss, namentlich dem ersten, den ich auch als das erotische „Noch-Nicht“ bezeichne, birgt meiner Meinung nach sowohl all das Spannungs- und Geheimnisvolle, das sich bis zu diesem Punkt bei den Liebenden angesammelt hat, wie auch ihre anhaltende Ungewissheit darüber, ob sich im nächsten Moment wirklich all das erfüllen und zu einem guten Ende kommen wird, was doch schon so lange in ihnen wohnt und sie umtreibt, bis in die unruhigen nächtlichen Träume hinein. Ihr Begehren ist trotz der zunehmenden Nähe des jeweils Anderen noch etwas ziellos, ihre Sehnsucht ähnlich ungerichtet - und doch geht die immer stärker werdende Liebes-Hoffnung einher mit dem wundersamen Gefühl, das Glück in unmittelbarer Nähe und durch den nun folgenden Kuss besiegelt zu wissen, jedenfalls für den einen Moment, der ewig scheint und dann doch nicht verweilen will. Diesem, den Augenblick vor dem Kuss also bestimmenden „Noch-Nicht“ kommt auf solche Weise vielleicht tatsächlich eine größere Schönheit zu als der anschließenden Einlösung des Kuss-Versprechens selbst – und wird für mich deshalb auch erzählenswerter als das anschließende Spiel der Lippen und Münder (wenngleich – wir wollen nicht zu philosophisch werden – in meinen Texten durchaus auch der Vollzug von Küssen eine nicht unwichtige Rolle spielt, denn mit einem Kuss tritt unwiderruflich das in die Welt, was die Liebenden sich vorher nicht gesagt haben oder nicht sagen konnten).
Wir alle erinnern uns an besondere Liebesgeschichten und Momente, oft aber eher vage. Deine besondere Kunst ist es, sie aus dem Erinnerungsnebel zu lösen und fiktional erweitert auszuerzählen. Wie gelingt es Dir, so in die eigene Welt als, sagen wir, 16jähriger einzutauchen?
Ich wundere mich selbst, wieso es mir – und gerade in meinem ziemlich fortgeschrittenen Alter - zunehmend geschieht, dass erinnerte Situationen, nicht zuletzt Momente und Szenen zum Teil weit zurückliegender Liebesversuche, in einer Weise wieder lebendig werden, als seien sie erst gestern geschehen. Über die biochemischen Veränderungen eines alternden Hirns weiß ich wenig, deshalb lasse ich diese, manchmal fast physisch greifbaren Erinnerungen, die wechselweise Stimmungen wie Melancholie und Trauer, aber auch Heiter- und Dankbarkeit auslösen, staunend und ohne jegliche Abwehrversuche einfach an mich heran und versuche, ihnen schreibend noch einmal Gestalt zu verleihen und, im besten Fall, die späte Versöhnung der Liebenden mit sich und ihrer Vergangenheit zu ermöglichen, manchmal über den Tod hinaus. Natürlich leugne ich auch diesmal nicht die segensreiche Unterstützung der Erinnerung durch 50jähriges Tagebuchschreiben, den oftmaligen Griff zu in Leder gebundenen Alben, in die jahrzehntelang akribisch erst schwarz-weiße, dann bunte Fotos eingeklebt wurden und das Öffnen bemalter Pappkartons, in denen stapelweise handgeschriebene Briefe lagern, gerade auch solche, die von der Liebe handeln – Relikte aus einer untergegangenen Welt. Dies alles wird begleitet durch das Wiederhören alter Pop- und Rocksongs, die, das werden die meisten aus eigener Erfahrung wissen, uns schon nach wenigen Tönen in ganz besondere, so verstörende wie auch wunderbare Stationen früheren Lebens und Liebens zurückführen und sowohl weinen als auch lächeln machen. Und was darüber hinaus die von Dir genannte „fiktionale Erweiterung“ meiner Erzählungen betrifft, so halte ich es weiterhin mit der Maxime meines Freundes Bodo Kirchhoff: „Zwischen der Wirklichkeit und einer guten Geschichte ist immer die letztere vorzuziehen.“
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